LOOK vs. TOUCH
- Katharina Köberl
- 12. Aug.
- 4 Min. Lesezeit
Wenn das Aussehen mehr zählt, als das G´fühl. Wie du aus dem performen im Bett rauskommst und in deine Lust findest. Ein fragmentarischer Essay.
Das Auge übernimmt den Großteil unserer Sinnesleistung. Manche Studien gehen von 80% aus. Der Tastsinn bleibt da weit zurück. In einer Welt, die hauptsächlich geprägt von visuellen Eindrücken ist (virtuelle Welten), die Gefühle über Bilder erzeugen will (Werbung) und Status über den "Look" versichert, wird unserem Sehsinn noch mehr Bedeutung zugemessen. Das Bild ist das Basismedium geworden. Und doch ist die Existenz im Gespür tief verwurzelt.
Im Verborgenen wächst ein Körper und fühlt sich selbst zum ersten Mal
Der Tastsinn ist der erste entwickelte Sinn des Menschen. Bereits im Bauch ertasten wir die Anfänge unserer Existenz. Vor dem Riechen, Schmecken, Hören und Sehen kommt das Tasten. An diesem Punkt nehmen wir uns - noch in großer, außergewöhnlicher Verbundenheit - wahr. Genau an der verschwommenen Grenze zu dem, was wir später als Außen und Innen benennen, wächst das Leben.
Was passiert, wenn wir uns mehr dem Gespür als dem Sehen widmen? Das immer wieder tun und damit eine neue, habituelle Verkörperung kreieren? Ein anderes Selbst"bild" erzeugen? Was passt dann in unserer Sexualität ganz automatisch?
Kehren wir zum Gespür zurück. Kehren wir an etwas Altbekanntes, mit der Fähigkeit zu höchster Komplexität, zurück. Denn auch wenn das Sehen Vieles in diesen Zeiten übernimmt, ist in der Berührung ______________ verborgen. Setze ein: tiefe Wahrnehmung, leuchtende Existenz, erdendes Selbstbewusstsein, Vertrauen, Neugierde, Lust, physische Selbsterkenntnis, Stabilität, oder oder oder. Lass uns das kurz ausprobieren!
Wir wechseln Kanal
Da unser Gehirn die Superkraft der Imagination besitzt, bitte ich dich diese nun zu nützen:
Wahrnehmung Loslassen mit einem Seufzer. Wahrnehmung Sonne auf der Haut. Wahrnehmung voller Bauch. Wahrnehmung entspannten Augen nach Gähnen. Wahrnehmung Kopfstand. Wahrnehmung Überquerung einer hektischen Straße. Wahrnehmung Schaukeln. Wahrnehmung Erregung im ganzen Bauch. Wahrnehmung trockene Zunge. Wahrnehmung geöffnete Lippen. Wahrnehmung entspannte Stirn. Wahrnehmung Samt auf den Schulterblättern. Wahrnehmung schweres Wasserglases in den Händen. Wahrnehmung zartbitter Schokolade auf der Zunge. Wahrnehmung Schluck von eiskaltem, klaren Wasser. Wahrnehmung Stolz in der Brust. Wahrnehmung Kaugummiblase. Erdbeer.
Welches der Bilder war besonders lebendig? Welche Stimmung hat es ausgelöst? Welche affektive Reaktion?
Berührung ist eine alte Kunst, die wir aus den Augen verloren haben, weil ihr Ursprung nicht im Blickfeld ist.
Berührung kann verschiedenste Qualitäten erzeugen: sie kann dich führen oder sie kann dich locken. Sie kann besänftigen, sie kann dich aufbrausen. Sie kann dich fokussieren, sie kann dich diffundieren. Berührung ist eine alte Kunst, die wir aus den Augen verloren haben, weil ihr Ursprung nicht im Blickfeld ist. Die Wahrnehmung über die Haut lässt sich nicht willentlich unterdrücken. Sie ist einfach da, sobald wir da sind. Der Tastsinn ist unsere erste Existenzerfahrung und hat die Fähigkeit uns selbst sprichwörtlich begreiflich zu machen.
Das Problem ist nicht das Sehen, sondern die darauffolgende Bewertung
Im Untertitel frage ich im Wesentlichen, was ein dominanter Sehsinn mit uns macht. Das Thema in meinen Beratungsstunden ist ja nicht das Sehen, sondern die darauffolgende Bewertung z.B. einer Körperzone. Nicht die Wahrnehmung ist das Problem für viele, es ist die Bewertung dieser.
In der Wahrnehmungspsychologie unterscheidet man zwischen Exterozeptoren und Propriozeptoren. Unter den ersteren verstehen wir die Wahrnehmung der Außenwelt über Augen, Ohren, Nase. Propriozeption gibt über die Lage und Bewegung des Körpers, aber auch über die Spannung oder Dehnung der Muskeln bescheid.
Im Erleben der Sexualität brauchen wir beides. Wir erleben ein Wechselspiel von Innen und Außen, ein Aufnehmen eines Eindrucks, eine innere Antwort, eine folgende Reaktion. Ein ständiger Feedbackloop. Ist jemand stark im visuellen und bewertenden Modus in der Sexualität, verändert das die innere Antwort, verändert das die innere Spannung, den inneren Selftalk, die Propriozeption und die Reaktion nach Außen. Oft ist es sehr schwer, die bewertende Stimme in die Nebenrolle zu weisen. Um im sexuellen Spiel zu bleiben, greifen wir auf Wissen aus Pornos, aus früheren Erfahrungen und auf unsere eigenen Erwartungen zurück. Wir handeln nach Skript und performen Sexualität. Ohne Verkörperung, ohne Anschluss im Innen.
Warum der Fokus auf Wahrnehmung in diesem Setting hilfreich ist?
Wenn ich in die Wahrnehmung gehe, gehe ich immer zuerst in die Beobachtung. Und nicht in die Bewertung.
Anstatt: Wie sieht diese Bewegung aus? Lieber: Wie gestaltet sich diese Bewegung? Wo fühle ich sie? Ist sie groß oder klein? Wo erzeuge ich Unterschiede? Welche Qualität hat die Bewegung? Welche Gefühle löst sie aus? Ist es eng oder weit? Wärmend oder kühlend? Raumnehmend oder raumsparend? In welche Stimmung komme ich? Welche inneren Bilder entstehen? Was würde sich als nächster Schritt gut anfühlen?
Dadurch kommst du ganz zu dir, in deine Wahrnehmung. Vielen Menschen hilft es die Augen zu schließen und mit tiefer Atmung zu beginnen. Den Untergrund unter sich zu spüren. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Spüren ist zu erst eine individuelle Sache, die ich mit mir alleine übe, bevor ich sie in die geteilte Sexualität bringe.
Unterschiedliche Berührungsarten erzeugen unterschiedliche Qualitäten - und unser Körper liebt Varietät.
Das Fühlen bietet viele sinnliche Gelegenheiten: mit den Fingerspitzen, über die Haut, durch Lippen und Münder, mit Fußsohlen, kleinen Härchen ... Alles erkundet ein Außen. Doch das Fühlen bietet noch viel mehr: eine innere Wahrnehmung von meiner Haltung, meiner Bewegung, meiner Mimik, von meiner Existenz. Unterschiedliche Berührungsarten erzeugen unterschiedliche Qualitäten - und unser Körper liebt Varietät.
Viele Leute sprechen über Embodiment und Verkörperung. Oft so, dass man am Ende weiß, was das ist und dass es toll sein muss, aber nicht wie es sich erleben lässt. Verkörperung braucht genau diese Fragen der Wahrnehmung. Ich erkunde mit Hilfe von meinem/r Geist/Gehirn/Psyche meinen Körper, in dem mein mentaler Space eingebettet ist. Dieses Erkunden in regelmäßigen Abständen erzeugt Selbsterkenntnis auf verkörperter Ebene, es erzeugt Sicherheit in sich selbst und das wiederum fließt in das Erleben der Sexualität ein.
Wenn du mehr davon erkunden willst, dich anders als bisher mit dir und deinem sexuellen Körper auseinandersetzen willst: melde dich gerne.

Literaturempfehlungen rund ums Thema Sinne & Embodiment
Embodiment:
Storch, M., Cantieni, B., Hüther, G., Tschacher, W.: Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. 3., unveränderte Auflage. Verlag: Hogrefe, 2017.
Sinne:


Kommentare